Meldungen aus dem Landesverband Sachsen-Anhalt
Meldungen aus dem Landesverband Sachsen-Anhalt

Auf Spurensuche in Frankreich

Jugendgruppe aus Halle (Saale) besucht Niederbronn

Während der Führung über die Kriegsgräberstätte


Vom 15. bis 19. Mai 2023 besuchten elf Mitglieder der Jugendgruppe „Tagebuch der Gefühle“ aus Halle (Saale) die Internationale Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte Albert Schweitzer in Niederbronn-les-Bains, Frankreich. Bei der Vorbereitung und Recherche wurden sie vom Bildungsreferenten des Landesverbandes Sachsen-Anhalt sowie von der Gedenkstätte ROTE OCHSE aus Halle (Saale) unterstützt. Finanziell wurde die Reise durch eine Förderung der Stiftung Gedenken und Frieden unterstützt.
 

Das Projekt „Tagebuch der Gefühle“

Die Jugendlichen, die sich selbst als „neue Zeitzeugen“ bezeichnen, besuchen regelmäßig Gedenkstätten und -orte, um sich in ihrer Freizeit über politisch-historische Themen weiterzubilden. Ihre Eindrücke und Erfahrungen dokumentieren sie in einem inzwischen mehrbändigen „Tagebuch der Gefühle“. Diese Bücher werden anschließend von den Projektteilnehmern in Workshops im Unterricht eingesetzt - von Schülerinnen und Schülern für Schülerinnen und Schüler. Das Tagebuch ist in der Sprache der Jugendlichen geschrieben und damit auf Augenhöhe und sehr niedrigschwellig. Das Projekt hat Schnittstellen zur historischen Bildung, zur Erinnerungskultur und soll aufklären und sensibilisieren für die Themen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit mit dem Ziel, Ausgrenzung vorzubeugen.
 

Auf dem Weg nach Niederbronn-les-Bains

Nach einer langen Busfahrt kam die Gruppe am Nachmittag des 15. Mai in Niederbronn-les-Bains an. Um sich die Beine zu vertreten, wurde der Ort zu Fuß erkundet. Am Abend gab es noch eine wichtige Vorbereitung für den nächsten Tag: Der Besuch der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof stand auf dem Programm. 
 

Besuch der Gedenkstätte Natzweiler-Struhof

Die Gedenkstätte empfing die Jugendlichen mit denkbar schlechtem Wetter: einstellige Temperaturen und dichter Nebel, teilweise leichter Regen. Die Projektteilnehmer sahen darin jedoch eine Möglichkeit, den brutalen Alltag der Häftlinge zumindest ansatzweise nachempfinden zu können. Der Rundgang über das ehemalige Lagergelände endete an der sogenannten Aschegrube. Hier wurde die Asche, die bei der Verbrennung der toten Häftlinge übrigblieb und nicht zum Düngen des Lagergartens verwendet wurde, zusammen mit Küchenabfällen und Exkrementen entsorgt. Ein Akt der letzten Demütigung der Häftlinge, selbst nach ihrem Tod.

In unmittelbarer Nähe des ehemaligen Lagergeländes befindet sich die nationale Nekropole, die „Gedenkstätte der Helden und Märtyrer der Deportation“. Auf dieser Kriegsgräberstätte mit über 1.000 Gräbern ruhen Menschen, die während der Okkupation Frankreichs Widerstand leisteten und dafür deportiert und hingerichtet wurden. Ihre sterblichen Überreste wurden nach Kriegsende hierher überführt und eine nationale Gedenkstätte geschaffen. Hier ruhen drei Menschen, die vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und im Zuchthaus Halle hingerichtet wurden. An den Gräbern dieser drei Menschen gedachten die Jugendlichen der Toten und stellten sich gegenseitig die Biographien dieser Menschen vor. 

Den Abschluss bildete die Besichtigung der ehemaligen Gaskammer, die etwas außerhalb des Lagers liegt und erst seit kurzem für Besucher zugänglich ist. Die Besonderheit dieser Gaskammer besteht nicht nur darin, dass sie die einzige auf französischem Boden war, sondern auch darin, dass sie ausschließlich zu dem Zweck gebaut wurde, eine „Skelettsammlung“ für die Reichsuniversität Straßburg anzulegen. Diese Sammlung, die Teil des Ahnenerbe-Projekts werden sollte, aber nicht realisiert wurde, sollte die nationalsozialistische Rassentheorie und die „Minderwertigkeit der Juden und Jüdinnen“ beweisen. Zu diesem Zweck wurden im August 1943 86 Menschen jüdischen Glaubens in der Gaskammer ermordet. Es sollte die einzige Aktion bleiben, bei der die Gaskammer zum Einsatz kam. Die Biographien dieser Opfer standen im Mittelpunkt der Ausstellung. 

Nach einem solchen Tag hatten die Jugendlichen viele Eindrücke zu verarbeiten. Ein Kanal dafür war der tägliche Live-Stream auf Instagram, wo sie ihre Eindrücke und Gefühle teilten. Dabei reflektierten sie das Gesehene durchaus kritisch. Insbesondere die fehlenden Übersetzungen aus dem Französischen innerhalb der Ausstellung sowie das Verhalten anderer Jugendlicher in der Gedenkstätte wurden thematisiert.
 

Besuch Straßburgs als Ausgleich

Als emotionaler Ausgleich stand am zweiten Tag der Besuch Straßburgs auf dem Programm. Hier hatten die Jugendlichen die Möglichkeit, die Stadt auf eigene Faust zu erkunden, was ein Teil der Gruppe nutzte, um die Synagoge und das alte jüdische Viertel der Stadt zu besichtigen. Natürlich durfte auch ein Besuch des Straßburger Münsters nicht fehlen. 
 

Gräberpflege und Recherche auf der Kriegsgräberstätte Niederbronn

Der dritte Tag stand ganz im Zeichen der Kriegsgräberstätte Niederbronn. Zunächst erhielten die Jugendlichen eine Einführung in die Gedenkarbeit der Bildungsstätte sowie eine Führung über die Kriegsgräberstätte durch den pädagogischen Mitarbeiter Niels Grammes. Dabei standen die Geschichte des Friedhofs und einzelne Biographien der dort Bestatteten im Mittelpunkt. Anschließend hatten die Jugendlichen die Möglichkeit, die im letzten Jahr eröffnete Dauerausstellung auf der Kriegsgräberstätte zu besichtigen.

Am Nachmittag stand die Pflege von Kriegsgräbern auf dem Programm. Dazu teilte sich die Gruppe in zwei Teams auf: Die eine Gruppe reinigte die Grabsteine mit Wasser und Wurzelbürste. Die andere Gruppe versuchte im umfangreichen Archiv der Jugendbegegnungsstätte Hintergrundinformationen wie letzte Briefe, Fotos oder Korrespondenz von Angehörigen der Toten zu finden, deren Grabsteine parallel gereinigt wurden. Dabei stieß die Gruppe auf Opfergruppen, die sie auf einem „Soldatenfriedhof“ nicht vermutet hätten, wie zum Beispiel die Gräber von Gisela Rothaupt, die nicht einmal zwei Jahre alt wurde, oder Frederike Ritter, die fast 98 Jahre alt war, als sie im Krieg starb. Immer wieder stießen die Teilnehmer auch auf Gräber von Soldaten, die bei ihrem Tod im gleichen Alter waren wie die Jugendlichen selbst. Dies verdeutlichte den Jugendlichen noch einmal, wie wichtig es ist, in Frieden zu leben. Den Abschluss des Tages bildete eine würdevolle Gedenkminute am Hochkreuz des Friedhofs.

Mit diesen und vielen weiteren Eindrücken im Gepäck ging es am nächsten Tag zurück nach Halle (Saale). Viele der Eindrücke und Emotionen dieser Bildungsreise werden in den nächsten Wochen und Monaten in die nächste Ausgabe des „Tagebuchs der Gefühle“ einfließen. Wir sind schon sehr gespannt darauf.
 

Eindrücke von der Reise