Mein Name ist Nils Wollmann und ich leiste ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Volksbund Sachsen-Anhalt ab. Wie viele tausend Familien blieb auch meine Familie nicht vom Krieg verschont. Um nur eines von vielen Schicksalen widerzuspiegeln, habe ich beschlossen, ihre Geschichte hier beim Volksbund festzuhalten und zu veröffentlichen. Stützen tue ich mich dabei auf Niederschriften und Erzählungen von meinem Opa, Werner Wollmann.
Mein Opa wurde am 4.6.1936 in einem kleinen Ort namens Saken in Ostpreußen geboren. In Saken, welches sich in der Nähe von Lyck (heute: Ełk) befindet, lebte mein Opa auf einem beschaulichen Gut mit seinen Eltern und seinen fünf Geschwistern. Die Anfangszeit des Krieges hat er als Kind kaum wahrgenommen. Zwar sahen er und die anderen Kinder die großen Scheinwerfer die gen Himmel schienen. Die Erwachsenen meinten, dass diese für die Flak seien. Aber welches Kind kann schon etwas mit einer Flak anfangen?
1943 brachten ihn seine Eltern in das 70km entfernte Angerburg zu seiner Oma und seiner Tante. Warum ihn seine Eltern dorthin gebracht haben, kann er sich bis heute nicht erklären. Die Trennung von seinen Eltern und die Frage „Warum?“ belasten ihn und lassen ihn bis heute darüber grübeln. Im Jahr 1944 rückte die Front immer näher und verlagerte sich immer weiter in Richtung Deutsches Reich. Als ganz Angerburg von deutschen Soldaten „überflutet“ war, begriff auch langsam mein Opa, welcher Grund für die ganzen Soldaten und die Flaks verantwortlich war. Aber mit acht Jahren ist man immer noch ein Kind und die Neugierde siegt über die Vernunft und die Weitsicht.
So kam es, dass mein Opa und seine Cousine eine Sprengkapsel fanden: „Munition konnte man überall finden. Meine Cousine fand eine Sprengkapsel. Sie war so groß wie ein Bleistift und aus Aluminium.“ Aus Neugierde warf mein Großvater die Sprengkapsel in den angeheizten Backofen und schaute durch ein kleines Schauloch, was denn nun damit passiert. Die Kapsel explodierte, Werner flog durch die Küche und knallte gegen einen Schrank. Die darauffolgende Aufregung konnte er nur noch hören, jedoch nicht mehr sehen. Das Ergebnis war ein in der Pupille tiefsitzender Aluminiumsplitter. Da alle naheliegenden Krankenhäuser aufgrund des Krieges geschlossenen waren, wurde mein Opa in das Lazarett nach Lötzen, in die Festung Boyen gebracht. Dort lag er 8 Wochen zusammen mit 15 deutschen Soldaten. Er verlor zwar nicht sein Auge oder erblindete, aber hat selbst heute noch Probleme mit dem linken Auge.
Nachdem mein Großvater das Lazarett verlassen konnte und wieder zurück in Angerburg war, dauerte es nicht mehr lange bis die Sowjetarmee bis zu ihren Türen vorgerückt war. Mein Opa und seine Oma und Tante schlossen sich einem Flüchtlingstreck an und begannen in Richtung Westen zu fliehen. Andauernd gab es Luftkämpfe über ihnen und es war keine Seltenheit, dass es auch Luftangriffe auf den Flüchtlingskonvoi gab: „Russische Flugzeuge beschossen unseren Treck. Jedes Mal, wenn sie angriffen, mussten wir in den Straßengraben springen und Deckung suchen. Ich möchte eigentlich gar nicht an diese schlimme Zeit zurückdenken.“ Weiter ging es dann mit einem Zug in Güterwaggons in den Ort Gottschimmerbruch, in der Nähe der Stadt Schneidemühl (heute: Piła). Dort angekommen wurden die Flüchtlinge in Gehöften und Bauernhöfen untergebracht. Doch auch hier dauerte es nicht lange bis die Nachricht kam, dass die Sowjets immer näher kommen und die deutschen Soldaten auf dem Rückzug seien. Noch bevor sich der Flüchtlingszug wieder in Bewegung setzen konnte, war die sowjetische Armee auch schon da: „Wir wurden von der russischen Armee überrollt. Alle hatten Angst, denn keiner wusste, was nun geschehen würde und was die Russen mit uns machen. Meine Tante machte sich immer älter als sie war. Man hatte ja schon oft gehört, dass viele Frauen vergewaltigt wurden.“
Doch die sowjetischen Soldaten behandelten die Leute gut, machten Späße mit ihnen und ließen ihnen ihre Freiheiten. Nur Uhren waren nicht sicher vor ihnen.
„Es ist jetzt 50 Jahre her, aber die Grausamkeit eines bestimmten Tages ist mir noch heute im Gedächtnis“. Es begann damit, dass deutsche Soldaten einen sowjetischen Offizier an dem Fluss „Netze“ erschossen haben. Als Vergeltungsmaßnahme dafür wurden alle Männer des Dorfes festgenommen, mussten sich an der Flussniederung aufstellen und wurden dann mit Maschinengewehren niedergeschossen. Die Frauen und Kinder durften das Dorf verlassen. Mein Großvater sah noch wie all die toten Männer auf einem Leiterwagen lagen und in einem Massengrab verscharrt wurden.
So ging die Flucht weiter und führte meinen Großvater in Richtung Mecklenburg in die Nähe von Anklam.
In den Nachkriegsjahren zog mein Opa dann hin und her. Zu seinem Onkel nach Bobingen in der Nähe von Augsburg, zu seinen über das Rote Kreuz wiedergefundenen Vater in Eldingen bei Celle und schließlich, mit 18 Jahren, fand er seine Mutter und seine Geschwister in Schönebeck an der Elbe wieder. Dort lernte er dann auch meine Oma kennen, sie heirateten und bekamen dann einen Sohn, meinen Vater.
Heute ist mein Opa 84 Jahre alt und ich sehe immer noch den Schmerz, den die Erinnerungen hervorrufen, in seinen Augen. Tod, Verlust, Zerstörung, Trennung, Flucht und Vertreibung. All diese schlechten Dinge bringt Krieg. Mein Großvater ist nur einer von Millionen, die die gleichen schlimmen Dinge und weitaus schlimmeres gesehen und erlebt haben, sei es als Kind oder als Erwachsener. Jede dieser Geschichten ist ein Grund, sich entschlossen für den Frieden zu entscheiden und sich mit aller Macht gegen die Dinge zu stellen, die so etwas Grausames wie Krieg hervorrufen.
Noch zweimal besuchte mein Großvater mit anderen Vertriebenen aus Ostpreußen sein Geburtshaus und die Stationen seiner Kindheit. Nach seiner letzten Reise entschied er sich dazu, seine Erlebnisse niederzuschreiben, welche nun die Vorlage für diesen Text gebildet haben.
„Niemand, der bei Verstand ist, zieht den Krieg dem Frieden vor; denn in dem einen begraben die Söhne ihre Väter, in dem anderen die Väter ihre Söhne“
-Herodot